Archäologie zwischen Saale und Unstrut

Von der Unterwelt ins Himmelreich

Bei den archäologischen Untersuchungen im Sommer 2009 und Frühjahr 2010 ist der Großteil der Nekropole aufgedeckt worden. Lediglich die Westgrenze des Gräberfeldes konnte nicht erfasst werden. Insgesamt sind 205 Bestattungen dokumentiert worden. Durch vielfältige Störungen und durch Hangerosion ist eine unbekannte Anzahl an Gräbern verloren gegangen. Das Gräberfeld wird demnach ehemals weit über 205 Bestattungen gefasst haben. Direkt am östlichen Rand des Gräberfeldes ist ein sehr bemerkenswerter Befund erhoben worden. Es handelt sich um einen etwa quadratischen West–Ost orientierten Gebäudegrundriss mit abgerundeten Ecken, der von schmalen Wandgräben gebildet wird.

Gesamtplan mit Gräberfeld und Kirche, Foto: LDA-LSA

Die Gräber der Nekropole nehmen direkten Bezug auf das Gebäude. Die lichten Maße des Grundrisses betragen etwa 10 m x 10m. Die Breite der Wandgräben misst noch max. 0,55 m. Trotz unterschiedlicher Erhaltungszustände lassen sich grundlegende Aussagen treffen. Die Wandgräben der West-, Nord- und Südwand zeigen einen bogenförmigen Verlauf, während das Gräbchen der Ostwand linear verläuft. Der auffällige Bezug der Gräber auf das Gebäude lässt zum einen auf eine Gleichzeitigkeit und zum anderen funktional auf einen Sakralbau - genauer eine Kirche oder Kapelle - schließen. Ferner werden Gräberfeld und auch Kirche vom spätmittelalterlichen Landwehrgraben geschnitten, was ihre zeitliche Nähe belegt. Ein sehr ähnlicher Befund ist vom slawischen Gräberfeld Halle/Queis bekannt. Hier liegt ebenfalls ein quadratischer Grundriss vor, der von Wandgräben gebildet wird. In Halle/Queis erfolgte die Belegung um die Kirche herum, was in Niederwünsch wohl nur noch im Ansatz versucht worden ist, denn südlich und östlich der Kirche befinden sich nur zwei kleine isolierte Gräbergruppen mit jeweils zwei Bestattungen.

Die Wandgräben der Bauten von Halle/Queis und Niederwünsch verlaufen bogenförmig. Dieser Verlauf spricht gegen die Verwendung von horizontal durchlaufenden Schwellbalken im Wandaufbau. Vielmehr kommt die Technik der Palisadenbauweise in Frage. Derartige Wandgrabenbefunde finden im Kirchenbau zwischen Rhein und Elbe/Saale so gut wie keine Parallelen. Kirchengrundrisse aus Wandgräben, für die eine Palisadenbauweise angenommen werden kann, stammen vorwiegend aus Großbritannien und später auch aus Skandinavien. Diese Bauweise ist dort bei Kirchen bis in die Zeit um 1100 angewandt worden. Parallelen stammen auch aus dem Raum östlich von Elbe und Saale, zumeist aber aus Siedlungskontext und sehr selten aus dem Kirchenbau (Berlin Spandau). Im Hinblick auf den quadratischen Grundriss zeigen sich jedoch Parallelen westlich von Elbe und Saale. Hier handelt es sich um einfache quadratische Saalbauten. Im Fall von Niederwünsch ist der Binnenbereich durch eine versetzte Nord–Süd verlaufende Pfostenreihe in einen West- und Ostteil gegliedert. Dies entspricht der geläufigen liturgischen Trennung in Chor und Saal, wie es auch bei anderen Saalbauten ohne separaten Chor nachweisbar ist. Allgemein wird aufgrund der vielen spätslawischen Gräberfelder ohne zeitgleichen Kirchenbezug davon ausgegangen, dass sich die Slawen bis in das 12. Jh. mit Erfolg gegen den Zwang erwehrten, bei Pfarrkirchen zu bestatten, eine These die nun einer erneuten Prüfung unterzogen werden sollte.

Erdstall unter der Kirche, Foto: LDA-LSA

Im Innenbereich der Kirche konnte ein Befund erfasst werden, der in Mitteldeutschland zu den absoluten Raritäten gehört. Bei der Untersuchung einiger unscheinbarer isolierter Einzelbefunde stellte sich heraus, dass diese im Untergrund miteinander verbunden waren. Hierbei handelt es sich um einen sog. Erdstall, ein Kriechgangsystem. Von diesem konnten nur einige Abschnitte erfasst werden, da größere Bereiche mit Lößversturz verfüllt und im anstehenden Löß unkenntlich sind. Lediglich die Bereiche im Umfeld der Zugänge sind mit humosem Substrat verfüllt und damit archäologisch fassbar (Abb.). Das Gangprofil weist einen spitzbogigen Querschnitt mit ebener oder leicht gewölbter Sohle auf. Dieses konstruktive Merkmal hat keine stilistischen Gründe, sondern ist allein statisch bedingt. An der Ostwand innerhalb des Kirchenbaus befindet sich ein Zugang. Hier führt der Gang in etwa 1,30 m Tiefe. In diesem Bereich befinden sich in der Gangverfüllung massive Holzkohlekonzentrationen und Steinansammlungen, die teilweise Verkohlungsspuren aufweisen. Dieser Abschnitt des Ganges führt in das Zentrum des Kirchenbaus. Hier fächert er sich in einen südlichen und nördlichen Verlauf auf. Im Norden führt der Gang im Bereich der Nordwand der Kirche nach außen an die Oberfläche. Der südliche Verlauf ist nur noch etwa 2 m weit zu verfolgen. Ab hier verliert er sich im Erdreich und ist heute nicht mehr eruierbar. Lediglich im Bereich außerhalb der Westwand der Kirche lassen sich zwei Gangfragmente erfassen. Interessanterweise befinden sich hier zwei tiefe Pfostengruben außerhalb des Kirchengrundrisses, die den Gang flankieren. Weiter westlich ist der Gang nicht mehr nachweisbar. Allerdings beginnt etwa 1 m westlich der Pfostenstellung die Belegung des Gräberfeldes und ein weiterer Verlauf ist nicht mehr denkbar, so dass eine Art Zugang vermutet werden darf, oder aber der Gang hier blind endet.

Plan des Erdstalles unter der Kirche, Foto: LDA-LSA

Die Stichhöhe des Ganges beträgt max. 1,10 m, teilweise auch nur 0,60 m. Die Gangbreite konnte mit 0,40 - 0,65 m ausgemessen werden. Der sehr deutliche Bezug von Kirche und Erdstall lässt auf Gleichzeitigkeit schließen. Dem Erdstall von Niederwünsch ist in Sachsen-Anhalt nur der Befund aus Schwerzau (Burgenlandkreis) an die Seite zu stellen, obwohl dieser im Bereich der erfassten Abschnitte nicht mit einer bekannten Kirche und zugehörigem Friedhof in Verbindung steht. Erdställe sind hingegen in Süddeutschland und Österreich sehr zahlreich. Die Entstehung dieser Anlagen wird aufgrund von naturwissenschaftlichen Daten und Fundmaterial in die Zeit vom 10. bis 11. Jh. datiert. Der Nutzungszeitraum der Gänge jedoch ist unterschiedlich. Viele Anlagen wurden häufig im Spätmittelalter bewusst verfüllt. Über die Funktion der Erdställe gibt es seit langem eine rege Diskussion. Sie werden entweder profan als Fluchtgänge und Verstecke oder als Kenotaphe (Leergräber) und im christlich-theologischen Sinne als Seelenkammern gedeutet. Mittlerweile zeigt sich, dass es sich bei einigen Erdställen eher um sakral zu deutende Anlagen handelt, während andere aufgrund der Gesamtsituation wahrscheinlicher als Fluchtgänge zu interpretieren sind. So sprechen nicht nur einige Konstruktionsdetails für eine Deutung als sakrale Anlage, sondern gerade auch die Lage der entsprechenden Erdställe. Tatsächlich ist zu beobachten, dass sich Erdställe häufig in enger räumlicher Verbindung mit Kirchen und Friedhöfen befinden, wie dies auch bei Niederwünsch der Fall ist.

Wenn auch in den früh- und hochmittelalterlichen Quellen Erwähnungen im Hinblick auf Erdställe fehlen, so scheint doch bezüglich des vorliegenden Erscheinungsbildes eine christlich-theologische Interpretation am plausibelsten. In dieser Konzeption werden Erdställe mit der christlichen Eschatologie und dem Fegefeuerglauben im hohen Mittelalter in Verbindung gebracht. Demnach dienten die Erdställe als vorläufige Ruhestätten (Refrigerium interim) der Seelen Verstorbener. Bis ins hohe Mittelalter war der Glaube an eine Unterwelt nach vorchristlicher und antik-jüdischer Tradition in der christlichen Welt verankert. Diesem Unterweltsglauben nach erwarteten die Seelen Verstorbener in Kammern der Unterwelt den Jüngsten Tag. Durch Fürbitten traten die Lebenden mit dieser Unterwelt in Verbindung, um die Lage der Verstorbenen in diesem Zwischenzustand zu verbessern, denn dieser Zustand war je nach Sündenlast individuell besser oder schlechter. Dieser Glaube könnte zur Errichtung der Erdställe geführt haben. Sie sind in diesem Zusammenhang als Ergänzung zum Friedhof aufzufassen, da sich hier ja die (seelenlosen) Körper der Verstorbenen befanden. In eine solche Interpretation gehört dann auch der räumliche Bezug mit der Kirche als Haus Gottes und als Ort des Gebetes.

Der Kirchenbefund und der Erdstall von Niederwünsch sind aus sich heraus nicht datierbar, allerdings aufgrund der Zeitgleichheit mit dem Gräberfeld chronologisch eingrenzbar. Die große Anzahl an Funden, vornehmlich aus Frauengräbern, zeigt hier eine gute Möglichkeit, den Datierungsspielraum einzugrenzen. Neben Perlen und Fingerringen steht vor allem die stattliche Anzahl von über 40 silbernern Schläfenringen unterschiedlicher Typen zur Verfügung. Sie gehören zum großen Teil zu thüringischen und slawischen Typen und man datiert sie auf die Zeit vom frühen 11.Jh. bis in die Mitte des 12.Jh.

Die bronzenen Fingerringe und Perlen aus Karneol, Bergkristall, Blei/Zinn und Glas erweisen sich als chronologisch kaum verwertbar. Sie kommen aber oft in Grabzusammenhängen des ausgehenden 11. und 12. Jhs. vor. In das 11./12. Jh. weisen auch die Kopfnischengräber. Hinweise auf ältere Gräber fehlen. Beispielsweise fehlen Gräber mit mittelslawischer Keramik vollständig. Nur ein Grab führte Keramik, wobei das Gefäß fragmentiert vorliegt und spätslawischer Machart ist. Für das Gräberfeld kann nach jetzigem Kenntnisstand also ein Belegungszeitraum von der ersten Hälfte des 11. Jh. bis in das späte 12. Jh. angenommen werden. In diesen Zeitraum datieren dem Kontext zufolge auch der Kirchenbau und der Erdstall.

Der Befundkomplex Holzkirche – Erdstall – Reihengräber von Niederwünsch gibt uns einen seltenen Einblick in den Grad und die Struktur der Christianisierung einer spätslawischen Dorfbevölkerung im Saalegebiet. Neben dem Kirchenbau zeigt vor allem die Anlage des Gräberfeldes als Reihengräberfeld und - lässt man den Schmuck als Trachtbestandteil bei Seite - die Tatsache, dass echte Beigaben bis auf Ausnahmen fehlen, einen nach christlichem Brauch geprägten Friedhof. Zu den wenigen echten Beigaben als Ausnahme gehören beispielsweise Eier, die im slawischen Gebiet als Grabbeigabe weit verbreitet sind und als christliches Wiederauferstehungssymbol gedeutet werden. Während dem Kirchenbau von Niederwünsch auch der ähnliche Bau von Halle/Queis zur Seite gestellt werden kann, so ist jedoch der Zusammenhang eines spätslawischen Gräberfeldes mit einem Erdstall in Mitteldeutschland bislang einzigartig.

Anhaltspunkte über den Namen und Grund des Wüstwerden des Ortes gibt es keine. Für das späte 12.Jh. sind weder schwere Epidemien noch umfassende Kriege in dieser Gegend bekannt. Möglicherweise brannte das Dorf ab und wurde nicht mehr aufgebaut. Als ebenso auffällig kann betrachtet werden, dass von dieser Wüstung bis zu ihrem Auffinden nichts bekannt war, weder älteste Karten, noch Urkunden berichten hier von einer Wüstung.

Quelle: gekürzt und ergänzt nach einem Artikel bei www.lda-lsa.de/landesmuseum_fuer_vorgeschichte/fund_des_monats/2010/dezember/

Literatur: Ahrens 2001
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Abbildungsnachweise: Abb. 1: H. Jarecki (LDA), A. Otto (TDE), S. Grippa (LDA)
Text: Eric Müller (LDA)
Redaktion und Internet: Tomoko Emmerling