Archäologie zwischen Saale und Unstrut

Das Geheimnis bleibt

Nach einem Artikel von DIANA DÜNSCHEL, 30.04.10, aktualisiert 04.05.10, Halle/MZ

Auf der Luftaufnahme ist deutlich zu erkennen, dass die Toten in Reihengräbern liegen. Alle blicken nach Osten. (FOTO: LANDESAMT)

Im Zuge der archäologischen Untersuchungen auf der ICE-Neubaustrecke Erfurt-Halle/Leipzig legten die Mitarbeiter des Landesamtes für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt etwa 1 km östlich des Ortsteiles Niederwünsch ein spätslawisches Reihengräberfeld frei. In nur wenigen Zentimetern Tiefe fand sich ein etwa 1500 Quadratmeter großes Reihengräberfeld aus dem Hochmittelalter, also dem zehnten bis zwölften Jahrhundert

Mit seinen insgesamt rund 200 Bestattungen handelt es sich nicht nur um eines der größten Gräberfelder dieser Zeit, die bisher in Sachsen-Anhalt entdeckt wurden. Das, was die Expertengesichter zum Strahlen bringt, sind zudem der Umriss eines rechteckigen hölzernen Sakralbaus von zehn mal zehn Metern Größe unmittelbar am Bestattungsplatz. Nachweise für einen Holzbau, der ganz offenbar für religiöse Zwecke diente und aus dieser Zeit stammt, sind äußerst selten. Es ist vielmehr erst der zweite in ganz Mitteldeutschland. Sein Grundriss erinnert auch noch nicht an die klare Unterteilung einer Kirche mit Langhaus, Chor und Apsis. Dazu kommt, dass die Toten - Männer, Frauen und Kinder - in einer Mischung aus slawischen und christlichen Traditionen beerdigt wurden.

Nun ist aus der Chronik von Wünsch bekannt, dass einst Slawen die Niederlassung gründeten, die als Unschi im neunten Jahrhundert im Hersfelder Zehntverzeichnis erstmals erwähnt wurde. So ähnlich dürfte es sich auch mit der längst von der Landkarte verschwundenen Nachbarsiedlung zugetragen haben, zu der der Begräbnisplatz nachweislich gehört. Die Archäologen wissen, dass sich die Häuser der Bewohner nur knapp 200 Meter weiter nördlich befanden.

Nahmen sie den christlichen Glauben an, um in der neuen Umgebung schlicht zu überleben? Gaben sie gleichzeitig in den Nächten die Geschichten über Götter ihrer Vorfahren an die nächsten Generationen weiter und riskierten dabei Haut und Haar? Alles Spekulationen, was für die Archäologen zählt, sind einzig Fakten. "Die Toten lagen alle auf dem Rücken, den Blick nach Osten gerichtet, ganz nach der christlichen Bestattungsweise". Doch bei Christen waren Beigaben in den Gräbern nicht üblich. Gerade sie aber gab es bei Wünsch in Hülle und Fülle. So hatte ein Toter quasi als Münze eine halbierte Metallscheibe aus Bronze im Mund, als sollte er damit nach guter alter heidnischer Tradition die Überfahrt ins Totenreich bezahlen.

Der Lößboden sorgte zudem nicht nur für eine hervorragende Konservierung der Bestattungen. Ihm ist auch zu verdanken, dass selbst nach so vielen Jahrhunderten in einem Grab ein Ei zum Vorschein kam, bekanntlich das Symbol für Wiederauferstehung und Fruchtbarkeit. Auch in anderen Grabanlagen Mitteldeutschlands wurden immer wieder über Funde von Eiern berichtet.

Besonders umfangreich zeigt sich die Fundpalette beim Schmuck. Ketten, Schläfen- und Fingerringe aus Silber und Bronze, Perlen von unterschiedlicher Farbe, Form und Größe. Von den Schläfenringen fanden die Archäologen einmal sogar bei einer Toten sechs Stück, je drei links und rechts am Kopf. Wahrscheinlich waren sie an einem Band befestigt oder kunstvoll ins Haar geflochten. Es gibt Fingerringe, auf denen immer noch ein Muster zu erkennen ist.

Doch auch andere Funde hatten schon einen weiten Weg zurückgelegt, bis man sie am Bächlein Schwarzeiche rund 20 Kilometer westlich des Bischofssitzes Merseburg den Verstorbenen für das nächste Leben mitgab. Da sind geschliffene Karneol-Perlen, die wie Bernstein aussehen. Abgesehen davon, dass die Einheimischen das nötige Handwerk dazu noch gar nicht beherrschten, wurde dieser Halbedelstein zu jener Zeit bis aus dem fernen Indien von Händlern mitgebracht. Auf welch abenteuerlichen Wegen mag er in die Siedlung der christianisierten Slawen bei Wünsch gelangt sein? War es für die Menschen von Vorteil, dass ihr Ort an einer wichtigen Kriegs- und Handelsstraße lag, welche von Halle über Bad Lauchstädt nach Thüringen führte?

"Hier lebte eine wohlhabende Gemeinschaft, die erfolgreich bäuerlich wirtschaftete und so über die nötigen Produkte für einen vielfältigen Tauschhandel verfügte", ist für Matthias Becker, den Gebietsreferenten und Projektleiter vom Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie, der einzig mögliche Schluss. Und für den Chefarchäologen Eric Müller ist eines klar: "Ich habe schon viel gesehen. Aber diese Grabung wird mir mit Sicherheit in Erinnerung bleiben. Funde wie dieser bereichern den Archäologenalltag ungemein."

Bis zur endgültigen Räumung der Grabungsflächen um diese alte Wüstung durch die Archäologen nutzten diese jede verbleibende Minute, um so viele Informationen wie möglich über das Bauwerk neben dem Bestattungsplatz zu entlocken. Für den Laien sind dort nur dunkelbraune Verfärbungen und kleine Ringe in der ockerfarbenen Erde zu erkennen, die nun Millimeter für Millimeter weiter abgetragen wird. Der Fachmann sieht die palisadenförmigen Wände und Pfosten, die wahrscheinlich die Dachlast trugen, vor seinem geistigen Auge. "Für seine Zeit ist der Bau gewaltig", schätzt der Chefarchäologe Eric Müller ein. "Was haben die Menschen hier drin wohl getan?", fragt er sich und meint: "Nur für eine Totenwache wäre das Gebäude zu groß."